Jo Spiegel, Maire de Kingersheim – ein Streiter für direkte Demokratie

Am 24. November feiert Jo Spiegel, langjähriger Bürgermeister unserer elsässischen Partnergemeinde Kingersheim, seinen siebzigsten Geburtstag – toutes nos félicitations, herzlichen Glückwunsch! In seiner 30-jährigen Amtszeit (1989 – 2020) hat Jo Spiegel sehr viel für die Kommunalentwicklung getan und erreicht. Dazu gehört auch ein Bereich, der in Hirschau bislang eher unbekannt geblieben ist – sein Einsatz für mehr direkte Demokratie. Dieser Einsatz soll anlässlich des runden Geburtstags noch einmal besonders gewürdigt werden.

Joseph Spiegel, bekannt als Jo Spiegel, wurde 1951 in Mulhouse (Mülhausen) im Dreiländereck Frankreich, Deutschland, Schweiz geboren. Von Beruf ist er Sportlehrer. 1976, noch in der Ära Mitterrand, wurde er Mitglied der Sozialistischen Partei, der PS – Parti socialiste. Zum Bürgermeister der Stadt Kingersheim im Département Haut-Rhin wurde er erstmals 1989 gewählt. Fünf Mal hintereinander wurde er dann mit jeweils großer Mehrheit wiedergewählt und blieb bis 2020, also für 31 Jahre Bürgermeister.

2008 wurde Jo Spiegel außerdem „Secrétaire national de l’Assemblée des communautés de France“ (AdCF, gegründet 1989), also Nationalsekretär der Versammlung der Gemeinden Frankreichs, einer Art nationaler Gemeindetag. Dort war er für die Leitung der Kommission „Institutions, décentralisation et pouvoirs locaux“ (Institutionen, Dezentralisierung und lokale Kompetenzen) verantwortlich.

2014 lehnte Spiegel eine Aufnahme in die Ehrenlegion (Légion d’honneur, ein französischer Verdienstorden) ab. Hintergrund war unter anderem seine Kritik an herkömmlichen demokratischen Verfahren im Rahmen des semipräsidentiellen französischen Regierungssystems mit seiner (zu) starken Exekutive. In der Konsequenz verließ er im Jahr darauf auch die Sozialistische Partei und wurde 2018 Mitbegründer von „Place publique“ (Öffentlicher Platz – auch im Sinn von „Platz für Öffentlichkeit“), einer linken, ökologischen und pro-europäischen politischen Bewegung und Partei für „Bürger, Umweltschutz und Solidarität“.

Als Mitglied der Sozialistischen Partei und dann des Place publique erfuhr Bürgermeister Jo Spiegel landesweit wie international große Aufmerksamkeit und Anerkennung mit der von ihm in Kingersheim eingeführten Praxis der partizipativen Demokratie. Sein Credo: Die Gewählten Volksvertreter:innen sollten ihre Arbeit nicht darauf beschränken, alles alleine zu entscheiden. Partizipationsräte wurden dann zum Angelpunkt kontinuierlicher demokratischer Bürgerbeteiligung – einer Philosophie, die inzwischen das demokratische Leben von Kingersheim durchdringt.

„Les conseils participatifs sont la pierre angulaire des Etats Genéraux Permanents de la Démocratie (EGPD), une philosophie qui imprègne la vie démocratique kingersheimoise.“ (ville-kingersheim.fr)

Die Praxis der partizipativen Demokratie: Mehr Demokratie wagen

Partizipative Demokratie bedeutet, dass in Kingersheim für alle wichtigen Entscheidungen in der Gemeinde Partizipationsräte („Conseils participatifs“ oder „Enquêtes publiques“) eingerichtet wurden. Dabei ging es zum Beispiel um die Renovierung der Festhalle, das neue Bürgerhaus, die Einrichtung eines Kleinkindertreffs, die Neugestaltung des Spiel- und Freizeitgeländes „Park des Gravières“, die Auswahl neuer Straßenlaternen oder wie aktuell um Verbesserungen für den Radverkehr beim „Conseil participatif pour développer la pratique du Vélo dans la commune“.

Solche Bürgerkonferenzen setzen sich zu 40 % aus Freiwilligen, zu 20 % aus direkt Betroffenen und zu 40 % aus gelosten Bürgern zusammen. Für ihre Aufgabe erhalten die Räte jeweils eine fundierte Einführung, Ausbildung und Vorbereitung und erarbeiten dann Beschlussvorlagen für die gewählten Mandatsträger:innen. Deren vornehmste Aufgabe ist es also, an solchen Stellen kompetente Entscheidungen unter breiter, konsensorientierter Beteiligung zu ermöglichen.

„informer – écouter – dialoguer – participer – s’impliquer“

Zu verschiedensten Themen und unter dem Motto „informieren – zuhören – Dialog – mitmachen – sich einsetzen“ kamen in den ersten zehn Jahren ab 2006 bereits 40 Partizipationsräte mit insgesamt 700 Teilnehmenden in Kingersheim zusammen. Diese Räte waren mit maximal 50 Personen besetzt und erhielten Unterstützung durch Fachleute im Bereich Kommunikation und Moderation. Daneben gab es auch eine Reihe von Quartiersversammlungen. Die Praxis der „Etats Généraux Permanents de la Démocratie“ und der Partizipationsräte ist heute fest im demokratischen Leben unserer Partnergemeinde Kingersheim verankert und wird auch unter Laurent Riche, dem Nachfolger von Jo Spiegel, gepflegt. Sichtbares Zeichen dafür ist ein Bürgerhaus, das dezidiert der demokratischen Praxis gewidmet ist: „La Maison de la Citoyenneté, dédiée aux pratiques démocratiques“

Kingersheim unter Bürgermeister Jo Spiegel ist damit in Frankreich zu einem Synonym für direkte Demokratie geworden. Dabei ging es immer auch darum, wie die repräsentative Demokratie in Zeiten eines zunehmenden Populismus gestärkt werden kann: Wie können diejenigen, die in politischen Prozessen bislang eher unbeteiligt waren, einbezogen werden? Wie lassen sie sich für eine konstruktive Mitverantwortung und Mitgestaltung gewinnen? Und wenn breite Beteiligung und Mitbestimmung der Bürgerschaft gewollt ist: Welche Aufgaben haben dann heute die gewählten Mandatsträger:innen?

Wir werden uns bemühen, Jo Spiegel für einen Vortrag zu gewinnen, der diesen Fragen nachgeht und über Chancen für die partizipative Demokratie in Europa nachdenkt.